Fragst du dich manchmal, wer du eigentlich bist und was so alles in dir steckt? Möchtest du dich von alten Glaubenssätzen verabschieden und an verborgene Ressourcen wieder anschließen. Familienaufstellungen bieten die Chance, die tiefer liegenden und oft verborgenen Themen hinter unseren Fragen sichtbar und erfahrbar zu machen.
In dir lebt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich
Heute möchte ich dich zu einem kleinen Experiment einladen:
Spieglein, Spieglein an der Wand …
Stell dich vor einen Spiegel, wenn möglich vor einen großen, in dem du dich im Ganzen sehen kannst. Dann nimm dir ausreichend Zeit, dein Gegenüber – die Person im Spiegel – genau anzuschauen. Es ist gut, wenn du dein Spiegelbild zunächst eine Zeit lang einfach auf dich wirken lässt. Werde dabei nicht zu schnell ungeduldig. Lass dir Zeit, erst einmal wahrzunehmen, mit welcher Haltung du auf dich blickst. Schaust du dein Spiegelbild gerne an oder ist dir dabei eher unbehaglich zumute? Bemerke einfach, wie es jetzt gerade ist.
Die Person, die du jetzt im Spiegel vor dir siehst, ist dir vertraut. Wahrscheinlich wird sie es zunächst auch immer mehr, je länger du sie anschaust. Dann nimm einfach wahr – wie schaust du auf sie? Ist dein Blick kritisch, schnell bereit, das zu registrieren, was dir nicht so gefällt? Oder schaust du mit Freundlichkeit, Empathie und Wohlwollen auf dein Spiegelbild?
Und dann stell dir die Frage: „Wen sehe ich gerade? Wer ist dieser Mensch, den ich da vor mir sehe?“
Wahrscheinlich wirst du zunächst einmal die Person erkennen, die du heute – in diesem Augenblick- bist. Der Mensch, der dir vertraut ist, als den du dich kennst. Wir haben ja einen eingebauten „ICH-Sinn“ (Menschen, bei denen dieser Sinn verletzt ist, haben oft kein kohärentes Ich-Erleben mehr), der uns sagt – das bin Ich.
In jedem Moment …
Mach dir bewusst, dass deine Selbstwahrnehmung immer auch vom gegenwärtigen Moment abhängt. Sie ist wandelbar und kann je nach Umständen ganz unterschiedlich ausfallen.
Die Menschen, mit denen du vielleicht gerade zusammen gewesen bist, haben einen Einfluss darauf, wie du dich gerade erlebst. Wie energiegeladen oder lustlos du dich fühlst, kann von der Umgebung beeinflusst werden, in der du dich jetzt befindest. Ob du dich gerade magst und mit dir einverstanden bist oder dich mit Selbstzweifeln quälst, hängt auch damit zusammen, wie dein Tag verlaufen ist. Je nachdem, womit du dich gerade beschäftigst und in welcher Stimmung du momentan bist, kennst du dich an dem einen Tag zuversichtlich und voller Tatendrang. An einem anderen Tag erlebst du dich jedoch müde und vielleicht sogar mutlos. Und diesen Menschen siehst du dann jeweils, wenn du in den Spiegel schaust. Das heißt, da gibt es viel Veränderliches, in dem, „wer“ du gerade bist. Auch vieles, was nicht nur in dir selbst begründet ist, sondern mit den unterschiedlichsten von außen kommenden Einflüssen zusammen hängt.
…die ganze Gegenwart
Und gleichzeitig gibt es auch viel Konstantes, Dinge an dir, die nicht ständig wechseln. Die bestimmte und unverwechselbare Art, in der du „Du“ bist. Deine speziellen Eigenarten, deine besonderen Gewohnheiten. Die Art und Weise, wie du mit den kleinen und großen Herausforderungen des Lebens umgehst. Alles, was für dich deine Identität bedeutet – dieses faszinierende, vertraute und oft auch rätselhafte oder manchmal gar frustrierende Gemisch, zu dem du „ICH“ sagst. Vielleicht kannst du innerlich die Frage stellen: „Wer ist das, dieser Mensch, von dem ich „ICH“ sage, als den ich mich selbst wahrnehme?“ Bleibe offen dafür, hinter dem Gewohnten auch Neues und Unbekanntes zu entdecken.
Wenn du dir genügend Zeit lässt, fängst du ganz langsam an, ein wenig hinter das Vertraute zu schauen. Dann kannst du einen Schritt weiter gehen:
Blickwechsel – eine ungewohnte Perspektive
Stell dich dafür wie auf den Platz einer neutralen dritten Person. Denk dir einen Beobachter, eine Fee, einen Forscher. Oder nimm einen Menschen, der dir Vorbild oder Inspiration ist. Jemand, der mit frischen Blick ganz offen und auf jeden Fall wohlwollend und unvoreingenommen auf dich schaut.
Dafür kannst du dich auch gerne ein wenig vom Platz bewegen. Rück einfach ein Stückchen weiter nach vorne oder hinten, nach rechts oder links. Es ist leichter, eine andere „Position“ oder innere Haltung einzunehmen, wenn wir auch den Platz, an dem wir stehen, wechseln.
Erlaube dir von diesem Platz aus auf die Person im Spiegel zu schauen. Tu dies so, als wenn du ihr zum ersten Mal begegnest und noch gar nichts über sie weißt. Am besten geht dies mit einer inneren Haltung von Neugier und absichtslosem Interesse. Ich weiß, das ist u.U. gar nicht so einfach, besonders, wenn dir diese Art, auf dich selbst zu schauen, noch ungewohnt ist. Ich möchte dich aber ermutigen, es ruhig einmal auszuprobieren.
Und wieder – nimm einfach wahr. Was siehst du? Was fühlst du? Was für Gedanken kommen? Vielleicht hast du Lust, von diesem dritten Platz aus ein wenig auf Entdeckungsreise zu gehen. Erlaube dir, dich dabei überraschen zu lassen. Schreibe auf, was du entdeckst.
Abschluss
Um die Übung zu beenden, kannst du diesen Prozess des Erkundens mit einer kleinen Geste oder einem kleinen Ritual würdigen und abschließen. Du kannst etwa eine Hand auf dein Herz legen und dich bei dir selbst und deinem Spiegelbild bedanken. Vielleicht magst du dich vor deinem Gegenüber im Spiegel verbeugen. Finde selbst heraus, was dir angemessen erscheint und dir gut tut.
Jetzt hast du also einen ausführlicheren Blick geworfen auf den Menschen, der du heute – in der Gegenwart – bist. Du hast Vertrautes gesehen, Geliebtes und auch weniger Willkommenes. Und mit etwas Geduld hast du möglicherweise auch die eine oder andere neue Entdeckung gemacht. Vielleicht hast du sogar ein Stückchen von dem erblickt, was meistens nicht so offensichtlich in den Vordergrund tritt, wenn wir auf uns schauen. Lass uns hier noch einen tieferen Blick darauf werfen, wer dir während dieser kleinen Exkursion noch so alles gegenüber gestanden hat.
Es war einmal und ist wohl noch…
Neben dem, wer du heute bist, gibt es da noch eine wesentliche, ganz andere Komponente, die wir in der Regel nicht gleich auf dem Schirm haben. Eine, die sehr subtil und im Hintergrund wirksam sein kann. Die aber ebenso mit hineinspielt bei dem, wer wir sind und wie wir durchs Leben gehen: die Vergangenheit.
Denn in dein Körper-Seele-Geist-System ist immer auch ein großer Anteil der Vergangenheit eingeprägt. Sie ist buchstäblich in jede deiner Zellen eingeschrieben.
Der Imprint in deinen Zellen
Da ist zunächst deine ganz persönliche Vergangenheit. Erkenntnisse aus dem relativ jungen Forschungsgebiet der Epigenetik erzählen uns eindrucksvoll, wie unser Umfeld selbst auf Zellebene unsere Entwicklung mitbestimmt. Die Menschen und die Kultur, mit denen und in der wir aufwachsen, haben vom Moment der Zeugung an Einfluss auf unsere Entwicklung. Die Forschungen beschreiben sehr anschaulich, wie selbst unsere Zellen und unser Nervensystem sich in Resonanz und in Abhängigkeit zu unserem Umfeld im weitesten Sinne organisieren. Welche unserer Gene „angeschaltet“ werden und welche “ inaktiv“ bleiben, wird durch die uns umgebenden Bedingungen maßgeblich geprägt. Das bedeutet, in dir steckt in jedem Moment bis in die körperliche Ebene hinein die Prägung durch deine ganze persönliche Vergangenheit.
Peter Spork über Epigenetik – das Gedächtnis der Zellen
Die Ahnenlinie
Die Vergangenheit ist jedoch mehr als nur deine ganz individuelle Geschichte. Was in deiner Ahnenreihe lange vor deiner Geburt geschehen ist, kann sich noch heute auf dein Leben auswirken. Vorfahren, die uns völlig unbekannt sind und Geschehnisse, von denen wir gar nichts wissen, können sich in unserem Leben widerspiegeln. All die Erfahrungen von Eltern, Großeltern und noch weiter zurück in der Familiengeschichte spielen im Leben von nachfolgenden Generationen eine manchmal nicht unerhebliche, aber meist unerkannte Rolle. Und das, unabhängig ob du selber davon irgendeine Ahnung hast oder nicht. Denn was deine Vorfahren erlebt haben und was sie geprägt hat, liegt auch in deinen Zellen verschlüsselt.
Oft ist uns von all dem nichts bewusst und wir können die Symptome, die dadurch in unserem Leben auftauchen, zunächst nicht zuordnen. Bestimmte, vor allem unaufgelöste Familiendynamiken – ein „schwarzes Schaf“ der Familie, zerstrittene Familienlinien, jemand, über den aus bestimmten Gründen nie wieder geredet wurde – können ihre Dynamik über viele Generationen hinweg im Leben der Nachkommen entfalten.
Diese in dir buchstäblich eingeprägte Vergangenheit kann also ebenfalls einen großen Effekt auf dein persönliches Leben haben. Sie gestaltet mit, wer du bist und wie du dich durch dein Leben bewegst. Manchmal liegen dort Ressourcen verborgen – es kann eine ungeheure Kraft darin liegen, sich wieder bewusst und frei anzuschließen an den Strom der eigenen Vorfahren. Viele der unaufgelösten Dynamiken in Familiensystemen wirken jedoch als Blockaden und Hindernisse. Dann können sie sich, aus deinem heutigen Lebenszusammenhang nicht nachvollziehbar, immer wieder in den Weg stellen. Sie können so verhindern, dass du dich an deine dir innewohnenden Möglichkeiten und an den Kraftquell aus der Ahnenlinie voll anschließen kannst.
In dir pulsiert schon die Zukunft
Und schließlich bist du neben dem, was deine Gegenwart ausmacht und dem, was dich aus der Vergangenheit her prägt, gleichzeitig noch viel mehr. Denn in jedem Moment deines Lebens bist du auch immer deine Zukunft, die Verheißung dessen, was sich noch entfalten will. Du kannst dies „Potential“, „ungenutzte Ressource“ (s.o.), „Talent“ oder „Gabe“ nennen. Häufig, wenn wir von Zukunft sprechen, meinen wir damit nur unsere vertraute Vorstellung von heute, weitergedacht in der Zeit. Zukunft ist jedoch viel mehr. Sie kann jederzeit auch eine qualitative Essenz sein, eine Entfaltung dessen, was jetzt noch verborgen ist, was sich noch erfahren möchte. Oft tragen wir eine Ahnung davon in uns und eine Sehnsucht, diesen Schatz an unentdeckten Möglichkeiten zu heben.
Aus einem besonderen Blickwinkel geschaut
In systemischen Aufstellungen können wir uns diesen vielen Facetten unseres Seins auf ganz unterschiedlichen Ebenen zuwenden. Aufstellungen bieten die Möglichkeit, Familienthemen aus der Vergangenheit ans Licht zu holen. Indem wir sie würdigend anerkennen, eröffnen wir Möglichkeiten, gegebenenfalls lang verwickelte Knoten zu entwirren und zu lösen. Auch können wir uns in einer Aufstellung eigenen inneren Anteilen zuwenden, um sie näher zu beleuchten und dabei tiefer in unser eigenes Inneres einzutauchen. Aufstellungen bieten auch die Chance, sich dem, was noch unentdeckt in uns verborgen liegt, forschend anzunähern und uns so an unsere ureigenen Qualitäten wieder mehr anzuschließen.
Fehlende Puzzleteile aufspüren
Aufstellungsteilnehmer erleben oft einen umfassenderen und tieferen Blick auf die Hintergründe ihrer Fragestellung. Durch das Einbeziehen der unterschiedlichen Wahrnehmungen der Stellvertreter schauen wir wie mit einem Teleobjektiv auf die einzelnen Elemente des Aufstellungsgeschehens. Der Blick darauf, wie sie sich im Raum und zueinander in Beziehung stellen und welche Dynamiken dabei sichtbar werden, ermöglicht uns wieder, wie mit einem Weitwinkel das größere Bild zu erkennen. Dabei können völlig neue Facetten sichtbar werden und bisher unerkannte Zusammenhänge erschließen sich oft wie von selbst. Die Sinnhaftigkeit und innere Logik der „Geschichte“ kann nachvollziehbar erfahren werden. Ein tiefes Anerkennen von allem, was gewesen ist, ein Würdigen dessen, was ist und ein öffnender Blick für Zukünftiges tragen erheblich dazu bei, mehr Frieden ins jeweilige System zu bringen und bisher blockierte Energie wieder zum Fließen zu bringen.
Systemische Aufstellungen können die tiefer liegenden und oft verborgenen Themen hinter unseren Fragestellungen sichtbar und erfahrbar machen. Sie bieten dadurch die Chance, innere oder äußere Systeme, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, wieder auszubalancieren und so neu zu ordnen. Das System wird durch die Aufstellung sozusagen „neu informiert“ und vollständiger. Dieses „Update“ kann je nach Fragestellung und Anliegen den Zugang zu bisher nicht gesehenen Perspektiven eröffnen und so zu mehr Energie, Fülle und Lebensfreude führen.